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39 Objektiv wie ein Objektiv?

Objektiv sein, können wir das? Können wir völlig frei von Vorurteilen, eigenen Vorlieben, so richtig unvoreingenommen urteilen oder bewerten?

Da fällt mir spontan Hendrik ein. Er ist ein überaus korrekter Bürger und schon seit seiner Jugend überzeugt, Objektivität zu seinem Lebensmotto gemacht zu haben. Er liebt alles Schöne, Rot ist seine Lieblingsfarbe, somit haben Sonnenuntergänge für ihn eine ganz besondere Bedeutung.  Aber auch sonst erfreuen ihn warme Farbtöne, von Braun über Ocker, bis zum Gelb der Sonnenblumen. Vor kurzem traf er am Bahnhof ganz zufällig seinen Schulfreund Jens, den er nach dem Abitur aus den Augen verloren hat. Dass es da allerlei zu erzählen gab, liegt auf der Hand. "Wann besuchst Du mich?", fragte Jens kurz bevor sich ihre Wege wieder trennten. Zwei Wochen später, an einem Sonntag war es dann so weit, Hendrick fuhr an den Stadtrand der idyllischen Kleinstadt um Jens und seine Familie zu besuchen. Die nette Stimme seines Navis führte ihn perfekt vors Gartentor. Doch was war das, ein Haus mit Flachdach, fast sah es wie ein Würfel aus, in kühlem, dunklem Blau gestrichen. Für Hendrick ein Schock, blau und noch dazu so kräftig. Fast hätte er vergessen den Klingeltaster zu drücken, so sehr warf ihn das Haus seines Freundes aus der Bahn. Nur mit großer Mühe konnte er zu einer herzlichen Begrüßung finden und nach und nach die Großzügigkeit der Innenarchitektur erfassen. Das Bauchgefühl, "wenn es doch bloß nicht blau wäre" verfolgte ihn aber noch recht lange. Und das musste Hendrick passieren, der doch so sehr überzeugt war, immer objektiv zu sein.

Aus den ersten optischen Linsen, die es schafften, am Kopf stehende Bilder der Umwelt herzustellen, wurden hochkomplexe Objektive, deren Ziel es ist, das "Gesehene" präzise und fehlerfrei an einen Bildsensor zu senden. Doch das ist gar nicht so einfach und selbst hunderte, verfügbare Glassorten sowie ebenso viele Computerberechnungen bringen immer nur einen Kompromiss zustande. Die physikalischen Gesetzmäßigkeiten lassen nun mal keine 100%ig fehlerfreie Abbildung zu. Ohne Abblenden bleibt zum Beispiel nahezu immer ein Qualitätsunterschied zwischen der Abbildung in der Mitte und den Bildecken. So wie wir Menschen es nicht schaffen absolut objektiv zu sein, wird auch das beste und teuerste Objektiv noch die eine oder andere "Schwachstelle" haben, die die Abbildungsleistung beeinträchtigt. Selbst wenn sich gerade in den letzten Jahren vieles getan hat, auch Objektive können nicht so objektiv sein, wie sich das ihre Konstrukteure wünschen.